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Zum europäischen Adipositas Tag, haben wir Ihren Artikel ausgegraben, der weiterhin durch seine Aktualität besticht. Das ist ein Auszug aus dem Artikel: „Per Definition eine Krankheit, im Alltag ein Stigma, Adipositas ist in erster Linie behandlungsbedürftig“ (diabetes zeitung 1-2/2022: Seite 10/11)
Gedanken zur Einführung eines strukturierten Behandlungsprogramms, Disease Management Programm (DMP) Adipositas von Dr. Anke von Sengbusch
„Dass eine wie Sie verstehen kann, wie es uns geht, das hätte ich niemals gedacht“ ist nach wie vor eines der schönsten Komplimente, die mir ein Patient gemacht hat. Ich bin nämlich schlank und die Patientinnen und Patienten in meiner Adipositasgesprächsgruppe sind definitionsgemäß dick. Und viel zu oft resultiert daraus nicht ohne entsprechenden Erfahrungshintergrund die Annahme, der oder die andere könne einen gar nicht verstehen.
Seit vielen Jahren begleite ich im Rahmen der stationären internistischen Rehabilitation Menschen, die ein Thema mit dem Dicksein haben. In einer nicht-edukativen Gruppe sitzen wir wöchentlich zusammen und reden. Nicht immer ist es lebendig, manchmal sind die Gruppen zäh und man lamentiert im „früher war alles besser“-Modus über die vielen Dinge (volle Regale, Lebensmittelindustrie, Werbung, lieferando), die in unserer Zeit der allseits bekannten pyramidengemäßen Optimalernährung entgegenstehen.
Über sich selbst zu sprechen ist immer schwerer. Trotzdem erscheint es mir wichtig, über das Ernährungs- und Bewegungsprogramm der Reha hinaus einen Raum für Reflexion anzubieten, der in den letzten Monaten erfreulich rege genutzt wurde. Was darauf hindeuten könnte, dass dicke Menschen nicht bloß in passiver Erwartung verharren, sondern danach streben, mehr Gehör zu finden, im besten Fall auch vor sich selbst.
"Selbststigmatisierung– das ist es, was meine Patientinnen und Patienten betreiben" Auf der Diabetes Herbsttagung 2021 gab es eine Session zum Thema Stigmatisierung–in der es neben der Außensicht auf dicke Menschen auch um deren „Selbststigmatisierung“ ging. Ja, genau das ist es, was meine Patientinnen und Patienten betreiben.
Sie sind bereit, die Dinge, die ihnen im Alltag hundertfach begegnen, in ihren Dialog mit sich selbst zu übernehmen.
Arztbesuche, bei denen egal worum es geht das Gewicht für ein „Sie wissen ja woran es liegt“ herangezogen wird; die Blicke, die im Supermarkt in ihren Einkaufswagen landen oder im Fitnessstudio auf ihren Oberschenkeln. Eigentlich dürften sie so wie sie sind sich weder zeigen noch irgendwelche Nahrung zu sich nehmen. Sie denken, dass dieses Selbststigma des Unansehnlichen tatsächlich ein guter Antrieb sei für den dann doch endlich erfolgreichen nächsten Diätversuch.
Letzte Woche sagte eine Patientin (62-jährige Psychiatriepflegekraft) mit BMI 41 und terminalem Diätfrust zu mir, ihr verzweifeltes Ziel sei nun, das Hungergefühl positiv zu erleben als etwas, womit sie ihrem Körper etwas Gutes tue. Ich musste an die Szene aus dem Film „Vom Winde verweht“ denken, in der Scarlett O´Hara mit folgenden Worten auf dem leeren Acker steht „Müsste ich auch stehlen, lügen und sogar töten, ich schwöre bei Gott, ich will nie wieder hungern“– eine nach wie vor eindrucksvolle Demonstration dessen, was Hunger in uns freisetzt.
Wohin bringen wir die Patientinnen und Patienten mit unseren beschönigend gesagt gut gemeinten Interventionen? An dieser Stelle muss nicht wiederholt werden, wie gering der langfristige „Erfolg“ von konservativen Diätprogrammen ist, wenn man ihn an der Zahl auf der Waage misst. Und auch die chirurgischen Methoden, die primär so viel erfolgreicher gemessen am Kriterium der Gewichtsreduktion erscheinen, bewirken an nicht wenigen Patienten (von denen eine relevante Zahl im Rahmen von Erwerbsminderungsrentenverfahren in der Reha landet) Schäden auf verschieden Ebenen –Folgeeingriffe, Mangelernährung mit Leistungsminderung, Suchtprobleme. Akzeptanz scheint nach wie vor verpönt zu sein
Hilft die Selbststigmatisierung oder schadet sie?
Viele meiner Patientinnen und Patienten verteidigen sie hartnäckig: „Wenn ich mich so akzeptieren würde, wie ich bin, was wäre dann mit meinem Antrieb abzunehmen?“ Sie haben Angst, dass sie dem inneren Schweinehund (ein unsägliches Wort) nichts mehr entgegenzusetzen hätten. Aber würde ihnen die von uns allen und von ihnen selbst am meisten gefürchtete Selbstakzeptanz nicht vielmehr helfen, konstruktive Dinge in ihrem Alltag zu tun? Selbstbewusst sich zu bewegen, auch im Schwimmbad oder in der Öffentlichkeit, lustvoll mit Bedacht Essen einzukaufen, anstatt schamhaft den Supermarkt so schnell wie möglich mit dem Altbewährten wieder zu verlassen, Bilder von sich zu genießen, anstatt sie sich zur Abschreckung an die Kühlschranktür zu heften?
Praktisch jede Studie zum Thema Adipositas zielt auf Ähnliches: Womit erreichen die Patientinnen und Patienten die höchste Gewichtsreduktion: mit low fat oder low carb, neuen Medikamenten, endoskopischen Interventionen oder doch mit dem ewigen Gewinner, der operativen Therapie?
Aber was berechtigt uns denn eigentlich, das Ziel der Gewichtsreduktion zum einzigen heiligen Erfolgsindikator zu erklären?
Natürlich freuen wir uns über einen solchen Parameter, der der allgegenwärtigen Qualitätsforderung nach Messbarkeit huldigt– und so eine Zahl hat zugegeben etwas erfreulich Griffiges. Aber in Bezug auf andere chronische Erkrankungen (ich leite noch eine zweite Gesprächsgruppe für Patientinnen und Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen) sind wir bescheidener in unseren Zielen und sprechen viel mehr über Akzeptanz – ein Wort das in Bezug auf die Adipositas nach wie vor verpönt zu sein scheint. Das Leben ist zu kurz, um es in Selbsthass zu verbringen.
Ein Strukturiertes Behandlungsprogramm (DMP) Adipositas ist eine richtig gute Idee. Wenn es dazu beiträgt, Menschen mit Adipositas nicht allein zu lassen. Wenn es dazu beiträgt, sie in ihrer Emanzipation und durchaus körperbezogenen Selbstfürsorge zu unterstützen. Wenn wir uns vielleicht sogar davon lösen können, dass der einzige Grund, diese Menschen ärztlich und therapeutisch zu begleiten, sei, dass sie an Kilos verlieren – auch wenn das bedeutet, unsere eigene „qualitäts“-gesteuerte Erfolgsgetriebenheit zu dämpfen. Wir sollten die Selbststigmatisierung der Menschen mit Adipositas nicht weiter befeuern.
Das Leben ist zu kurz, um es im Selbsthass oder– wie es eine mehrfach erfolglos operierte Patientin formulierte– im cervanteschen „Kampf gegen Windmühlen“ zu verbringen. Und das gilt einig nicht nur für Dicke.
Dr. Anke von Sengbusch, Chefärztin der Klinik für Gastroenterologie und Stoffwechselerkrankungen in der MEDIAN Klinik Bad Gottleuba
Den vollständigen Artikel können Sie in der DIABETES ZEITUNG 01-02/2022 ab Seite 11 lesen.