In der Fachwelt viel beachtet hat die 72. Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly, WHA) in der vergangenen Woche die überarbeitete Version des internationalen Klassifikationssystems der Krankheiten, ICD-11 ( englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), verabschiedet, die ab 2022 den seit 1992 bestehenden Katalog der 55.000 Krankheiten, Symptome und Verletzungsursachen ablösen soll. Darin enthalten ist zum ersten Mal auch eine Definition des Burn-out als Faktor, der die Gesundheit beeinträchtigen kann. Bisher war Burn-out zwar in der ICD-10 enthalten (Z73), aber nicht in einer krankheitsspezifischen Form. Die WHO hat jetzt Burn-out als Syndrom definiert, das im Zusammenhang mit Belastungen bei der Arbeit steht, als „chronischer Stress am Arbeitsplatz, der nicht erfolgreich verarbeitet wird." Das ist nicht unumstritten, denn die Dimension des Burn-out bei nicht-berufstätigen Menschen – ausgelöst zum Beispiel in der Familie durch Belastungen bei der Kindererziehung oder Pflege Angehöriger – wird dabei außen vor gelassen. Ein Interview mit Dr. med. Dr. phil. Stefan Nagel, Chefarzt der Abteilung Psychosomatik der MEDIAN Klinik Heiligendamm:
Frage: Herr Dr. Nagel, reicht die Definition der WHO für Burn-out aus?
Dr. Dr. Stefan Nagel: Die Art und Weise, wie das sogenannte Burn-out nun voraussichtlich in der ICD11 platziert und definiert werden wird, finde ich außerordentlich problematisch. Die WHO definiert, das Gefühl des Ausgebranntseins resultiere aus chronischem Stress am Arbeitsplatz, der unter anderem zu einer negativen Einstellung zum Job und geringerer Leistungskraft führen könne. Das wird der Krankheit nicht gerecht.
Frage: Was konkret kritisieren Sie?
Dr. Dr. Stefan Nagel: Die Definition greift zu kurz. Eine Krankheit, die ausschließlich im beruflichen Zusammenhang auftritt, scheint es mir wohl kaum zu geben. Zumindest müsste dann geklärt werden, welche besonderen Ursachen denn die berufliche Welt besitzt, dass es nur dort zu einem entsprechenden Krankheitsbild kommen kann. Rein faktisch widerspricht dem auch die Tatsache, dass das, was wir bisher als Burn-out bezeichnen, zunächst besonders oft und stark ausgeprägt bei pflegenden Angehörigen im Privatbereich beobachtet wurde und dort, wie bei allen helfenden Tätigkeiten, egal ob im beruflichen oder privaten oder ehrenamtlichen Kontext, bis heute vermehrt auftritt. Es dürfte dann aber nicht mehr diagnostiziert werden, sobald eine Helfertätigkeit keine berufliche mehr ist. Das ist auf mehreren Ebenen widersinnig.
Frage: Nun ist der Bezug auf Stress ja recht weitläufig zu verstehen. Ist das nicht ein Schritt in die richtige Richtung?
Dr. Dr. Stefan Nagel: Der reine Bezug auf Stress erscheint mir je nachdem, wie dieser Stress definiert wird, ebenfalls fragwürdig, da Burn-out nicht so sehr Folge einer Überlastung durch äußere Faktoren, sondern viel mehr durch innere und emotionale Überlastungsfaktoren und Konflikte gekennzeichnet ist, die nicht mehr „erfolgreich bearbeitet“ werden können, wie eben z. B. der moralische Druck bei der Pflege von nahen Angehörigen, was zu einer Stressverdopplung im Sinne von äußerem Stress durch die Pflegeanforderung und innerem emotionalem Stress führt. Damit ergibt sich ein weiteres Mal die Frage, wieso das denn nur im beruflichen Leben möglich sein soll und nicht gerade auch bei „Erfahrungen in anderen Lebensbereichen“ oder bei einer Kombination aus beruflichen und privaten Belastungsfaktoren.
Frage: Das heißt, die Definition ist auch zu ungenau und einseitig?
Dr. Dr. Stefan Nagel: Ja, sie geht ins Paradoxe. Denn die isolierte Nicht-Bewältigung einer angeblich ausschließlich beruflichen Stresssituation zu einer eigenständigen Krankheit zu erklären, sie aber gleichzeitig nicht mehr bestimmten Merkmalen dieses Arbeitslebens zuzuschreiben, sondern lediglich als „Versagen“ des Einzelnen aufzufassen, stellt einerseits einen Widerspruch in sich selbst dar und ist zum anderen eine in ethischer Hinsicht äußerst problematische Aussage, denn es gibt laut der bis jetzt bekannten Formulierung in der zukünftigen ICD-11 dann ja kein pathogenes Maß an externem beruflichen Stress mehr, sondern nur noch fehlende Coping-Strategien. Es gibt also nur noch eine Pathologie beim Einzelnen, die dann auch nur bei ihm bekämpft werden muss, indem ihm die entsprechenden Bewältigungsstrategien therapeutisch „beigebracht“ werden. Nebenbei gesagt: Wieso ihm diese persönlichen Fähigkeit gleichzeitig nur im Beruf fehlen sollen, bleibt ungeklärt.
Frage: Wie sieht es denn in der Praxis aus? Gibt es da nicht doch eine Trennung zwischen beruflichem und privatem Burn-out?
Dr. Dr. Stefan Nagel: Nein, definitiv nicht. Häufig haben Burn-out-Patienten je nach Erkrankungsstadium gerade keine ausreichende „geistige Distanz“ oder „negative Haltung“ zu ihrem Berufsleben. Häufig ist ihre Leistungsfähigkeit eben nicht nur beruflich eingeschränkt, sondern betrifft alle Lebensbereiche. Eine isolierte berufliche Eingeschränktheit, die im Privatbereich nicht existiert, ist kaum beobachtbar, von der Logik her eher unwahrscheinlich und, falls sie dennoch auftritt, eher anderen Krankheitsbildern zuzuordnen.
Frage: Das heißt, die WHO muss aus Ihrer Sicht an dieser Stelle noch einmal nacharbeiten?
Dr. Dr. Stefan Nagel: Auf jeden Fall. Es gilt gerade beim Thema Burn-out noch wesentlich mehr Aspekte zu berücksichtigen als nur das Berufsleben. Allein die bisherige Diskussion, ob Burn-out nicht eine Unterform einer Depression darstellt, bleibt weiterhin ungeklärt. Stattdessen wird einfach ein schlecht und fragwürdig definiertes neues Krankheitsbild ohne Einordnung in die bisherigen Konzepte psychischer Erkrankungen etabliert. Das gilt sogar für das Stress-Modell, denn dort gab es bisher keine Beschränkungen ausschließlich auf den beruflichen Bereich. Stress ist im bisherigen Modell grundsätzlich ein ubiquitäres Phänomen. Für mich ist die Definition de Burn-out in der ICD-11 unvollständig, einseitig und wenig hilfreich. Hier besteht nach meiner Auffassung Korrekturbedarf.