Bald gibt es an deutschen Schulen Halbjahreszeugnisse – nicht für alle Kinder und Jugendlichen eine schöne Aussicht. Viele empfinden massiven Leistungsdruck: bloß nicht die Versetzung vermasseln, die Empfehlung fürs Gymnasium schaffen, einen guten Abschluss machen, damit es mit dem Ausbildungs- oder Studienplatz klappt. Die Lehrpläne sind seit Einführung des zwölfjährigen „Turbo-Abiturs“ immer voller geworden. Schülerinnen und Schüler müssen Schritt halten – irgendwie. Als anregenden Lernort erleben viele ihre Schule nicht mehr. Rund 4 Prozent der etwa 11 Millionen Schulkinder in Deutschland leiden darüber hinaus sogar unter Schulangst oder Schulphobie, zeigt der aktuelle DAK-Kinder- und Jugendreport 2019.
Leistungsdruck und Überforderung sind aber nur zwei mögliche Ursachen für Schulangst, sagt Dr. Milan Meder, Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche in der MEDIAN Klinik Bad Gottleuba, die junge Menschen zwischen 6 und 18 Jahren mit psychischen, psychosomatischen und chronischen körperlichen Erkrankungen behandelt. „Auch Mobbing und Demütigungen durch Mitschüler oder Lehrer können ein Auslöser sein.“ Von der Schulangst zu unterscheiden ist die Schulphobie, deren Ursache im Elternhaus liegt: Dabei wird die Trennung von einer Bezugsperson – meist der Mutter – als so bedrohlich erlebt, dass die Schule Wochen oder Monate lang nicht besucht werden kann.
In beiden Fällen kann eine Rehabilitation helfen, die Angst zu überwinden. Rund 6 Wochen dauert der Aufenthalt im sächsischen Bad Gottleuba südlich von Dresden. Der Tag ist klar strukturiert; neben der Arbeit mit Ärzten, Psychologen, Therapeuten und Erziehern bleibt Raum für Sport und Freizeit, zum Beispiel bei Abenteuertouren in der Natur. Auch eine eigene Schule betreibt die Klinik. „Zwei Stunden am Tag wird in Kleingruppen von bis zu 6 Schülern gelernt“, erzählt Dr. Meder. Der Unterricht orientiert sich am Lehrplan der Heimatschule. Um in entspannter Atmosphäre arbeiten zu können, gibt es keine Noten. „Uns geht es vor allem darum, dass die Kinder Schule wieder als stressfreien Ort erleben, ihr Selbstvertrauen und ihren Mut zum Lernen wiederentdecken“, sagt der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.
Nicht nur den Leistungs- und Notendruck an vielen Schulen sieht der Mediziner kritisch. Auch die Tendenz, Kinder immer früher einzuschulen und möglichst schon in der Kita „schulfit“ zu machen, besorgt ihn. Denn in den ersten 6 bis 7 Lebensjahren komme es auf ganz andere Kompetenzen an: „Vor allem die emotionale Entwicklung ist wichtig: zu begreifen, dass ich ein ,Ich‘ bin. Sichere Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen. Das ist die Basis für unser gesamtes weiteres Leben.“
Warnsignale für Schulangst oder Schulphobie sollten Eltern aufmerksam wahrnehmen. Zieht mein Kind sich zurück, baut es ab oder „versumpft“ zunehmend in den digitalen Medien? Werden die Noten deutlich schlechter oder häufen sich die Tage, an denen es über Kopf- oder Bauchschmerzen klagt und nicht zur Schule gehen will? Bemerken Eltern solche Veränderungen, sollten sie sofort reagieren und das Gespräch suchen, ohne Sohn oder Tochter Vorhaltungen zu machen. Ein wichtiger Partner ist der Kinderarzt: Er hilft bei Fragen rund um die Rehabilitation und verfasst den ärztlichen Befundbericht, der dem Reha-Antrag an die Deutsche Rentenversicherung beigelegt wird.
Durch die kontinuierliche Behandlung über mehrere Wochen hinweg und den Abstand zum Alltag werden die jungen Patienten nachhaltig gefestigt – je früher, desto besser. Auch bei Rückfällen sollten Eltern nicht zögern, erneut einen Antrag zu stellen, rät Dr. Meder, denn „einmal im Jahr darf man eine Reha machen“. Der Mediziner hat im Laufe der Jahre schon oft erlebt, wie junge Patienten nach ihrem Aufenthalt in Bad Gottleuba gestärkt ins Leben zurückkehren. „In jedem Kind steckt unheimlich viel Potenzial. Wir müssen ihm nur den Raum geben, es zu entfalten.“