Was genau macht die (Vor-) Weihnachtszeit so stressig und wie lässt sich der Druck reduzieren? Marco Schmeding, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Chefarzt im MEDIAN Zentrum Bad Pyrmont, gibt dazu wertvolle Einblicke.
Warum empfinden viele Menschen die Weihnachtszeit als besonders stressig?
Die Weihnachtszeit bringt zahlreiche Herausforderungen mit sich, die auf verschiedene Faktoren zurückzuführen sind. Hohe Erwartungen an sich selbst und andere stehen dabei oft im Vordergrund. Dazu kommt ein sozialer und gesellschaftlicher Druck: „Was denken wohl die Nachbarn, Kolleg*innen oder Verwandten?“ Diese äußeren Erwartungen können sich belastend auswirken.
Die dunkle und oft graue Witterung der Jahreszeit schlägt vielen Menschen zusätzlich auf die Stimmung. Nicht zuletzt wecken die Feiertage häufig Erinnerungen an vergangene Weihnachten, die rückblickend idealisiert betrachtet werden. Diese „verzerrte“ Wahrnehmung setzt einen unrealistischen Maßstab, der die aktuelle Situation noch herausfordernder erscheinen lässt.
Welche Faktoren machen diese Zeit für viele so belastend?
Ein schon früh im Jahr einsetzender medialer und gesellschaftlicher Druck trägt dazu bei, dass viele die Weihnachtszeit als überfordernd erleben. Die Botschaft von „Weihnachten als Fest der Liebe“ – geprägt von Harmonie, Wärme und Zusammenhalt – steht oft im Widerspruch zu den individuellen oder globalen Realitäten.
Weltweite Krisen wie Kriege, wirtschaftliche Unsicherheiten und politische Spannungen beeinflussen das Stressempfinden ebenso wie persönliche Herausforderungen wie berufliche Belastungen, Einsamkeit, finanzielle Sorgen, Krankheit oder Trauer. Der Kontrast zwischen diesen realen Problemen und der von Werbung und Medien gezeichneten idealisierten Weihnachtswelt – voller Konsumversprechen, harmonischer Familienbilder und der vermeintlichen Idylle, die Lieder wie „All I want for Christmas is you“ oder „Driving home for Christmas“ vermitteln – verstärkt bei vielen das Gefühl, den Erwartungen dieser Zeit nicht gerecht zu werden.
Wie lässt sich eine gesunde Balance zwischen sozialen Verpflichtungen, Arbeit und Erholung schaffen?
Der Schlüssel liegt darin, die eigenen Prioritäten klar zu definieren. Es hilft, sich von äußeren Zwängen zu lösen und bewusst zu überlegen: Was ist mir wirklich wichtig? Mit wem möchte ich Zeit verbringen? Was möchte ich an den Feiertagen erleben?
Frühzeitige Planung spielt eine entscheidende Rolle, um Stress in der Weihnachtszeit zu vermeiden. Ein rechtzeitiges Nachdenken über notwendige Besorgungen, Reisen oder andere Vorbereitungen kann helfen, Hektik und Druck in letzter Minute zu reduzieren. Auch im Arbeitsumfeld ist es sinnvoll, frühzeitig zu klären, wie die Erreichbarkeit während der Feiertage geregelt wird oder ob eine Auszeit möglich ist.
Streit in der Familie ist an Weihnachten keine Seltenheit – wie kann man solche Konflikte vermeiden oder lösen?
Familienkonflikte sind an den Feiertagen keine Seltenheit. Oft hilft es, sich zu fragen, mit wem man die Zeit wirklich verbringen möchte – und warum. Es ist auch völlig in Ordnung, Feierlichkeiten bewusst zu dosieren, denn: „Die Menge macht das Gift.“
Ein häufiges Konfliktthema ist das Schenken. Klare Absprachen über Budget und Erwartungen können Streitigkeiten vorbeugen. Ehrlichkeit ist hier besonders wichtig: Es ist besser, auf ein Geschenk zu verzichten oder Wünsche direkt abzusprechen, als unpassende Geschenke aus Verlegenheit zu kaufen.
Welche Bedeutung hat Selbstfürsorge in der Vorweihnachtszeit, und wie kann sie helfen, Stress abzubauen?
Selbstfürsorge ist essenziell, um die Weihnachtszeit bewusst und positiv zu gestalten. Jeder Mensch hat individuelle Vorstellungen von „Wärme“, „Gemeinschaft“ und „Gemütlichkeit“, weshalb es entscheidend ist, die eigenen Bedürfnisse klar zu erkennen und ihnen gezielt Raum zu geben. Dies umfasst sowohl das Bewusstsein dafür, was guttun könnte, als auch die Erkenntnis, was vielleicht eher belastend wirkt. Es geht darum, sich aktiv und achtsam mit den eigenen Bedürfnissen auseinanderzusetzen, nicht nur während der Weihnachtszeit, sondern auch im Alltag.
Eine Idee könnte sein, bewusst auf Geschenke zu verzichten und den dadurch gesparten Aufwand in eine Spende zu investieren. Dies kann erheblichen Druck nehmen. Ebenso sinnvoll ist es, „Zeit-Inseln“ für sich selbst einzuplanen, etwa für ein entspanntes Bad, einen Spaziergang oder das Lesen eines Buches.
Perfekte Feiertage sind ein weit verbreitetes Ideal – wie können Menschen sich vom Druck des Perfektionismus lösen und die Zeit trotzdem genießen?
„Perfekte Weihnachtstage“ entstehen vor allem dadurch, wie man sie selbst gestaltet. Es ist hilfreich, sich von externem Druck zu lösen und den Fokus auf persönliche Werte und Bedürfnisse zu legen. Konzepte wie Achtsamkeit und Dankbarkeit spielen dabei eine zentrale Rolle. Ein sinnvolles Ritual könnte darin bestehen, das vergangene Jahr zu reflektieren: Was ist gut gelungen? Welche Herausforderungen gab es, und was konnte daraus gelernt werden? Wofür besteht Dankbarkeit?
Solche Reflexionen schaffen oft eine tiefere emotionale Bedeutung und Nachhaltigkeit, die weit über den kurzfristigen Wert materieller Geschenke hinausgehen.